eine Deutung aus astrologischer und gleichnishafter Perspektive
© Wilfried Schütz 2017
Oft erzählen uns Mythen und Märchen Geschichten, die zwar in der äußeren, von uns scheinbar getrennten Welt, spielen, sich aber auf unser eigenes SELBST beziehen. Sie folgen damit dem Hermetischen Gesetz der ägyptischen Alchemie: "Wie innen, so außen; wie außen, so innen". So verhält es sich auch mit dem Märchen vom Dornröschen.
Vor Zeiten war ... ein Königspaar mit einem sehnsüchtigen Kinderwunsch, der aber
lange Zeit unerfüllt blieb. Dieses Königspaar lebt nicht nur im Märchen, sondern auch in jedem von uns als Animus, unsere männliche Seite (Feuerelement: Mars, Sonne, Jupiter) und Anima, unsere weibliche Seite
(Wasserelement: Mond, Pluto, Neptun). Der Kinderwunsch deutet nun darauf hin, dass die Entwicklung des Paares noch nicht abgeschlossen ist. Etwas will in ihnen noch heranwachsen. Dieses Etwas
tragen sie als Schatten (unbewusste verzauberte Anlage) in sich. Zur Bewusstwerdung wollen sie es nach Außen gebären. Sie erleben dann ihren eigenen Schatten in der Projektion auf das
Kind.
Eines Tages nähert sich der Königin beim Bad im Wasser ein Frosch als Vorbote des Schattens. Im Wasser (-element) des Bades ist die
Königin im urweiblichen Reich der Empfänglichkeit. Er teilt ihr mit, dass sie ein Kind bekommen wird. Die Gestalt des Frosches deutet ein weiteres Mal darauf hin, dass es sich um eine unbewusste
verzauberte Anlage handelt, die als Kind zur Welt kommen wird. Er ist uns ja aus einem anderen Märchen der Gebrüder Grimm bekannt: "Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich". In ihm begegnet die
Prinzessin ihrer eigenen unbewussten Anlage in der Gestalt des Frosches.
Es ist der Schatten der Anima, der weiblichen Seite, der bewusst werden will. Daher gebiert die Königin eine Tochter. Zum Fest der Geburt werden 12 Weise Frauen eingeladen. Die 13. im Reich lebende Weise Frau wird jedoch nicht zur Feier geladen, da das Königspaar nur über 12 goldene Teller verfügt. Goldene Teller symbolisieren verwirklichte (Gold) weibliche Fähigkeiten: die der Empfänglichkeit und Fürsorge (Mond, Pluto, Neptun). Jedoch eine weibliche Fähigkeit, die 13., ist noch nicht verwirklicht. Die guten Wünsche der 12 Feen für das Kind schildern die 12 Anlagen, die im astrologischen Tierkreis beschrieben werden. Über sie verfügt jedes lebendige Wesen und es hat die Aufgabe diese im Laufe seines Lebens zu entwickeln und zu nutzen.
Die 13. Weise Frau steht für einen Prozess, der in der Entwicklung und im Umgang mit den 12 Fähigkeiten stattfinden muss! Sie kommt ungebeten auf das Fest und prophezeit dem Neugeborenen voller Rache (Pluto) über ihre Missachtung: "Die Königstochter soll sich im 15. Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen." Auch dieser Satz steckt voller plutonischer Energie. Die 12. Weise Frau (Neptun) jedoch, die noch keinen Wunsch geäußert hatte, milderte den bösen Spruch ab: "Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in den die Königstochter fällt."
Der Prozess, der von der 13. Weisen Frau initiiert wird, ist eng mit der Zahl 13 verbunden. Sie steht symbolisch für die alchemistische Transmutation: den Tod, das Stirb und Werde (Pluto). Die 13 (1 + 3 = 4) als 4 deutet auf die Auseinandersetzung mit dem großen Verzauberer Saturn hin, der in unserem Geist die Illusion der Trennung (Gott - Mensch, EGO - DU) erzeugt. Die ähnliche Symbolik steckt in der Rose, welche die Stacheln (der Tod) und die Blüte (die Entfaltung der Liebe) in sich vereint: Die Dornen, unser EGO, müssen sterben, damit die Blume, unser SELBST, erblühen kann. Im Fall des EGOs beherrscht die Materie unseren Geist und im Fall unseres SELBST ist es der Geist und damit die Liebe, welche die Materie und das Leben in der Materie bestimmen.
Astrologisch wirken hierbei Saturn und Pluto zusammen. Saturn kreiert unser EGO und lässt es nach dem Sieg im Konkurrenzkampf streben, um Anerkennung zu bekommen und Karriere zu machen. Pluto lässt daraus Rollen entstehen und speichert dabei die verletzenden Erfahrungen und Traumen. Die EGO-Rollen (Saturn - Pluto), die wir glauben spielen zu müssen, reichen weit in unsere Vergangenheit (Karma) zurück. Oft sind sie kollektiv und klingen schon bei unseren Vorfahren ("Vererbung") an. Diese Rollen ziehen, Vampiren (Pluto) gleich, unsere ganze Lebensenergie auf sich, sodass das wahre Leben unseres SELBST (Sonne - Uranus) aus Energiemangel zu schlafen beginnt. Aus den leidvollen Erfahrungen wächst unser "Schmerzkörper" (E. Tolle) heran. Die Stacheln der Schmerzen bilden mit der Zeit um uns eine immer dichter werdende Dornenhecke, die keiner mehr durchdringen kann. Heute würde man die Dornenhecke als "Firewall" um die Seele beschreiben. Die wahre Anima schläft dahinter und der Animus kann sie nicht mehr erreichen, da er in den Dornen hängen bleibt und stirbt. Das gleiche erleben viele Paare in ihrer Partnerschaft, denn sie finden nicht wirklich mit der Fülle ihrer Lebendigkeit zusammen. Beider Dornen hindern sie daran.
Abb.: Dornröschen entdeckt die Handspindel
(Alexander Zick, 1890, upload by Adrian Michael)
Die ganze menschliche Tragik kommt mit dem 15. Lebensjahr auf die Königstochter zu. Als die Eltern (Saturn) nicht zuhause sind und sie in
eigener Verantwortung (Saturn) das Schloss (ihr eigenes Wesen, die Suche nach ihrem SELBST) erkundet. Dornröschen entdeckt in einem ihr unbekannten Turmzimmer (Seelenraum) eine alte Spinnerin
(Schicksalsfaden). Bei dem Versuch, es ihr gleich zu tun, sticht sie sich, wie prophezeit, mit der Spindel und ihr SELBST fällt daraufhin in einen tiefen Schlaf.Sie ist ja auf dem Weg zu sich
SELBST noch nicht in der Lage, ihr Schicksal selbst zu gestalten (spinnen).
Im 15. Lebensjahr befindet sie sich in dem Alter, in dem das EGO sein Leben in eigener Verantwortung (Saturn) gestalten will und in der Folge beginnt die Auseinandersetzung mit dem gefallenen Luzifer (verzauberter Saturn), ihrem EGO. Es ist das Alter der Pubertät und der aufbrechenden Sexualität (Pluto). Die Symbolik der Spindel ist hier recht eindeutig sexuell zu deuten.
Die Zahl 15 symbolisiert im Tarot den Teufel (Satan = verzauberter Saturn). Sein URTEIL spaltet die Welt und trennt ICH vom DU, den Mann von der Frau und den scheinbar "Guten" von dem scheinbar "Bösen". Über die Sexualität (Pluto) schaffen wir es scheinbar, dass sich Anima und Animus, Mann und Frau wenigstens für eine kurze Zeit vereinigen (Alchemie: coagula / verbinden) können. Darauf folgt aber immer wieder die frustrierende Trennung (Alchemie: solve / lösen). Die scheinbar im sexuellen Akt gewonnene Einheit zerrinnt und hinterlässt nichts als die Sehnsucht nach ihr. In diesem verzweifelten Sehnsucht-Spiel wachsen weitere skorpionische Dornen (Pluto): Leben unter Erwartungsdruck, Opferung, Bindung, Unterdrückung, Kontrolle, Eifersucht und Rache. Sie lassen eine Dornenhecke um unser SELBST entstehen und die resultierende, durch Schuld konditionierte (Saturn) EGO-ROLLE (Saturn - Pluto), lässt uns das wahre Leben (Sonne - Uranus) verschlafen.
Dieser Zustand dauert im Märchen 100 lange Jahre. Warum aber gerade 100? Die Zahl 100 steht symbolisch für die Einheit (1) auf einer höheren Ebene (1 + 0 + 0 = 1), der Ebene der Erlösung. Sie wird erreicht, wenn sich die Dornenhecke in ein Meer von Rosenblüten verwandelt. Dann ist das Ende der alchemistischen Transmutation erreicht, das EGO (Blei) ist gestorben. Das SELBST (Gold) ist erwacht und mit ihm das ganze Wesen (... der ganze Hofstaat). In ihm übernimmt die geistige Sonne (Uranus) wieder die Führung. Im Leben entfaltet sich unsere wunderschöne Blüte und wird zur Freude für die Welt. Wahre Liebe zu allem was ist beherrscht unser SEIN. Es ist dies die Zeit, in der die Dornen ihre Kraft verloren haben, und daher der Animus, der Prinz, zur Anima, der Königstochter, gelangen und sie "wachküssen" kann.
Das Ziel der Alchemie, die Transmutation ist vollendet: Im SELBST sind Anima und Animus in Harmonie vereint und vom heil(ig)en Geist (Uranus, siehe in der Abb. die Taube) erleuchtet.
Abb.: Rosarium philosophorum, 1550, Nachzeichnung
Anima und Animus vereint mit dem heiligen Geist