Grimms Märchen: Hänsel und Gretel
eine Deutung aus astrologischer Perspektive
© Wilfried Schütz 2016
Die meisten werden das Märchen von "Hänsel und Gretel" kennen und sich der kindlichen Ängste erinnern, welche die Vorstellung der drohenden Trennung von den Eltern hervorrufen kann. Das Märchen beginnt mit der Erkenntnis des armen Holzhackers, dass er seine Kinder, Hänsel und Gretel, nicht mehr ernähren kann und dem Vorschlag seiner Frau, die Kinder doch in den Wald zu führen und sie dort alleine ihrem Schicksal zu überlassen. Der erste Versuch jedoch scheiterte, die Kinder wollen, wie man es heute ausdrücken würde, das "Hotel Mama" nicht verlassen. Erst der zweite Versuch der Trennung der Kinder von den Eltern war erfolgreich. Die Kinder fanden nicht mehr nachhause, sondern verirrten sich immer tiefer in dem großen Wald. In dieser Wirrnis übernahm ein schneeweißer Vogel ihre Führung, sodass sie zu einem Haus aus Brot und Kuchen gelangten. Als die Kinder begannen, daran ihren Hunger zu stillen, rief eine Stimme aus dem Haus:
"Knusper knusper knäuschen,
wer knuspert an meinem Häuschen?"
Die Kinder antworteten:
"Der Wind, der Wind, das himmlische Kind."
Daraufhin trat eine Hexe vor die Tür und lud die Kinder ein, in ihr Haus zu kommen und es sich gut gehen zu lassen. In Wirklichkeit jedoch wollte sie die Kinder fangen, mästen, braten und verspeisen. Gretel jedoch gelang es, die Hexe statt ihrer in den Ofen zu stoßen, sodass diese elendiglich verbrannte. Wieder frei, fanden sie im Haus der Hexe Perlen und Edelsteine, mit denen sie sich ihre Taschen füllten. Nachdem eine weiße Ente ihnen geholfen hatte, ans andere Ufer des großen Wassers über zu setzen, fanden sie heim ins Vaterhaus. Dort leben sie sorglos bis ans Ende ihrer Tage.
Anlässlich eines astrologischen Vortrags über "Die Eltern-Kind-Beziehung" konnte ich dieses Märchen verwenden, um die Notwendigkeit der Trennung der Kinder von ihren Eltern zu unterstreichen. Ausgehend von der hermetischen Lehre, dass das was außen ist, dem entspricht, was innen ist, erzählt das Märchen etwas über unser eigenes Inneres und die Entwicklung vom EGO zum SELBST. Hänsel und Gretel entsprechen dabei unseren inneren heranwachsenden Archetypen des Animus (Feuer: Mars, Sonne, Jupiter) und der Anima (Wasser: Mond, Pluto, Neptun). Solange sie unter der Obhut der Eltern (des Althergebrachten, Saturn) leben, führen sie kein eigenes Leben (Animus) und ihr Erlebenshunger (Anima) kann nicht gestillt werden. An diesem Hunger leidend, müssen sie, ob sie wollen oder nicht, hinaus in die Welt. Es ist eine fremde Welt, in der sie sich verirren. Hierfür steht in vielen Märchen der große tiefe Wald. Andere Mythen verwenden hierfür das Bild des Labyrinths.
Bei diesem Weg der scheinbaren Verirrungen werden die Kinder, und letztendlich auch wir alle, unbewusst geführt. Diese unbewusste schicksalhafte Führung übernimmt Uranus, der weiße Vogel im Märchen und erkennbar in der Antwort: "Der Wind, der Wind, das himmlische Kind". Uranus (gr. Himmel) repräsentiert den göttlichen Atem (Luftelement), den himmlischen Wind, das göttliche Kind in uns. Sein Anliegen ist es, uns vom Alten (Eltern, Saturn) zu trennen und uns auf den Weg der Individuierung (C. G. Jung) zu führen. In diesem uranischen Individuierungsprozess treffen wir zwangsläufig auf die Energie Plutos, auf die Hexe in uns. Sie zwingt uns, fremde Erwartungen z.B. der Vorfahren zu erfüllen und Rollen zu leben, die uns beherrschen, fremdbestimmen und von uns SELBST fernhalten. Um frei zu leben, muss diese Hexe früher oder später in uns sterben. Scheinbar bietet sie uns aber reichlich Nahrung (Haus aus Brot und Kuchen). Im Gegenzug fordert sie dafür jedoch gewaltige Opfer von uns. Sie erhält sich nämlich nur dadurch weiter am Leben, indem sie die Energie für unser heranwachsendes Leben: Hänsel und Gretel, einem Vampir gleich aussaugt (verspeist). Wollen wir aber diese Energie für unser eigenes freies Leben (Uranus-Sonne-Mond) nutzen, dann müssen wir die Hexe samt Erwartungen, Rollen und Zwängen verbrennen (Transformation). Gelingt uns dies, dann kann unsere Seele befreit wie der "Phönix" aus der Asche des Verbrannten aufsteigen. Es ist daher Gretel, die Projektion unserer Anima, welche die Hexe (Pluto) als Teil der Anima in den Ofen stoßen muss. Dieser Wandlungsprozess (Pluto) findet seinen Abschluss im Übersetzen vom alten zu einem neuen Lebensufer. Darüber hinaus wächst uns aus der transformierten Plutoenergie ein Schatz zu: Wir werden uns unserer inneren "Perle" (Uranus) bewusst und der graue Fels des Saturn wird zum "Edelstein". Ähnlich der "Geschichte vom verlorenen Sohn" kehren Anima und Animus, also wir SELBST, nach langer Reise heim in des "Vaters" Haus (Paradies), von dem wir ursprünglich ausgezogen sind. Und die Freude nimmt kein Ende mehr.
Bilder: Alexander Zick, upload by Adrian Michael